Es ist immer wieder faszinierend in den Reihen eines Theatersaals zu sitzen und dabei zu sein, wenn eine liebgewonnene Geschichte zum Leben erweckt wird. Dann sind es nur wenige Meter, die die eigene Vorstellungskraft und Fantasie von den Protagonisten auf der Bühne trennen und die Geschichte kann förmlich miterlebt werden.
So ging es uns auch bei unserem jüngsten Theaterbesuch im Schauspielhaus – Staatsschauspiel Dresden. Dort wird seit der Vorweihnachtszeit Astrid Lindgrens wohl märchenhaftester Roman auf die Bühne gebracht – als Familienstück mit jeder Menge Erlebnispotential. Die Rede ist von Mio, mein Mio – das Märchen, in dem Astrid Lindgren Realität und Wunderwelt so untrennbar und kunstvoll miteinander verwoben hat, das an ihrer parallelen Existenz nebeneinander her kein Zweifel mehr besteht. Ausgezeichnet wurde Mio, mein Mio dafür mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 1956.
Dem entsprechend gespannt waren wir auch auf die szenische Umsetzung dieses literarischen Kunstwerkes. Wie es dem Ensemble aber gelungen ist, der Textvorlage mehr als gerecht zu werden, davon möchten wir im Folgenden berichten.
Mio, mein Mio von Astrid Lindgren, übersetzt von Karl Kurt Peters und illustriert von Ilon Wikland, erschienen im Verlag Friedrich Oetinger. Am Schauspielhaus – Staatsschauspiel Dresden als Kinder- und Familienstück in einer Fassung von Kristina Lugn und unter Regie von Matthias Reichwald aufgeführt.
Aus Biografien und den Tagebüchern der Autorin wissen wir, dass viele ihrer Geschichten aus zufälligen Beobachtungen oder Begegnungen entstanden sind. So auch Mio, mein Mio. Ein kleiner Junge, den sie einsam auf einer Parkbank im Tegnérpark in Stockholm sitzen sieht, gibt ihr den Anstoß für die Reise ins Land der Ferne.
Dem Jungen gibt sie den Namen Bo Vilhelm Olsson – kurz Bosse – und lässt ihn seine Geschichte als Ich-Erzähler selbst erzählen. Und er beginnt rückblickend mit seinem Verschwinden – denn darum geht es, dass Bosse aus dem Tegnérpark verschwindet und seither nicht mehr gesehen wird. Ganz im Stile von Astrid Lindgren spricht uns Bosse dabei ganz direkt an. Er fragt, ob wir die Radiomeldung gehört haben, mit der man nach ihm suchte. Da dem natürlich nicht so ist, muss Bosse weiter erzählen und erklären, warum und wohin er verschwunden ist. Und schon hat die Geschichte einen gepackt und lässt bis zur letzten Seite nicht mehr los.
Bosse lebt als Pflegekind bei Tante Edla und Onkel Sixten, die ihn nicht gut behandeln. Er sehnt sich furchtbar nach Liebe und Geborgenheit – seine Mutter starb bei der Geburt und über seinen Vater weiß niemand etwas. Halt findet er nur bei seinem besten und einzigen Freund Benka, dessen gutes Verhältnis zu seinen Eltern er sehr bewundert.
[…] Meistens war ich bei Benka.
Sein Papa sprach immer viel mit ihm
und er half ihm Modellflugzeuge bauen
und machte Striche an der Küchentür, um zu sehen,
wie viel Benka gewachsen war, und all so etwas.
Benka durfte lachen und reden
und seine Kleider herumliegen lassen, so viel er wollte.
Sein Papa hatte ihn trotzdem lieb. […]
Soweit zur traurigen Realität – doch Bosse ist zu Höherem berufen. Man wartet bereits auf ihn und als er eines Tages einkaufen geschickt wird und unterwegs für die liebe Tante Ludin aus dem Obstladen einen Bootengang erledigt, passiert das Unbegreifliche. Bosse befindet sich auf einmal in Besitz eines goldenen Apfels, den er zuvor noch als ganz gewöhnlichen Apfel von Tante Ludin geschenkt bekommen hatte und begegnet im Park einem Flaschengeist. Dieser erkennt Bosse als den, den sein Herr ihm aufgetragen hat, zu finden und nimmt ihn schließlich mit – auf einen abenteuerlichen Flug in das Land der Ferne.
So packend wie der Übergang in das Fantastische in Lindgrens Vorlage geschrieben ist, so überraschend ist der Auftakt des Stückes am Schauspielhaus gestaltet. Vor einer zum Teil zerfallenen Städtekulisse Stockholms treffen wir nicht etwa auf den einsamen Bosse – nein, er tritt gemeinsam mit Freunden auf. Allen voran Benka, der es hier übernimmt von Bosses Verschwinden zu berichten und dabei lässig auf seinem BMX-Fahrrad Runden fährt. Gemeinsam musizieren und singen sie und lassen das Publikum wissen, dass es nun an der Zeit ist – “er” ist auf dem Weg und der Vorhang geht auf.
Den Weg ins Land der Ferne findet Bosse auch auf der Bühne mithilfe des Flaschengeistes. Dieser bringt ihn zu seinem König, der kein geringerer ist als Bosses schmerzlich vermisster Vater. Vor einem imposanten Segelschiff springt er ihm schließlich in die Arme, tauscht seinen Kapuzenpullover gegen ein Matrosenhemd und aus dem einsamen Stockholmer Jungen und verlorenen Sohn wird ein Prinz – Prinz Mio.
Die Geschichte nimmt ihren Lauf – Mio lernt Jum-Jum und seine Familie kennen, freundet sich mit ihm an und verlebt eine sorgenfreie Zeit bei seinem Vater, dem König. Von ihm bekommt er schließlich auch sein eigenes Pferd geschenkt – Miramis. Und das wird origineller Weise durch ein Einrad dargestellt und trägt Prinz Mio erstaunlich sicher über die Bühne.
Trotz notwendiger Fokussierung und einem sich daraus entwickelnden sehr eigenen Rhythmus fängt das Stück die Stimmung des Märchens wunderbar ein. Zwar setzt man auf jede Menge Effekte und Stilisierungselemente, bleibt aber dicht am literarischen Kern. Lindgrens Botschaft, dass ein jedes Kind Liebe, Unbeschwertheit und Geborgenheit erfahren sollte, um dadurch den nötigen Mut für die bevorstehenden Prüfungen des Lebens zu erlangen, ist im Stück fest verankert. So ist das Publikum beispielsweise hautnah dabei, als Jum-Jums Mutter den Jungs frisch gebackene Eierkuchen zuwirft, fühlt die unerschütterliche Verbundenheit und Liebe zwischen Vater und Sohn bei jeder überschwänglichen Begrüßung der beiden, die stets mit einem Sprung Mios in die Arme seines Vaters endet und lernt mit Mio auf erstaunlich einfache Art und Weise das Flötespielen. Mit Sicherheit hätten Astrid Lindgren diese Szenen auch sehr gut gefallen.
“Wir wollen gut auf unsere Flöten achten”, sagte ich zu Jum-Jum.
“Und sollten wir uns einmal verlieren,
dann wollen wir diese Melodie spielen.”
Jum-Jum hatte seine Arme fest um mich gelegt,
um nicht vom Pferd zu fallen.
Er lehnte seinen Kopf an meinen Rücken und sagte:
“Ja, Mio, wir wollen auf unsere Flöten achten.
Und wenn du mich auf meiner Flöte spielen hörst,
dann weißt du, dass ich nach dir rufe.”
Nach all der Idylle und glückseligen Zeit wartet schließlich auch auf Mio eine Prüfung, die es gilt zu bestehen. Er muss sich dem Kampf mit dem scheinbar Übermächtigen stellen und sich dafür auf den Weg ins Land Außerhalb begeben. Dort herrscht Ritter Kato mit dem steinernen Herzen über viele entführte und verzauberte Kinder, die im Land der Ferne von ihren Familien sehr vermisst werden. Mio allein gibt ihnen Hoffnung sie irgendwann wieder zu sehen.
Also reist der Prinz gemeinsam mit Jum-Jum über die im Nebel versunkene Brücke des Mondlichts, durchquert den Wald der Dunkelheit, die tiefste Höhle im schwärzesten Berg und gelangt schließlich zu Ritter Katos Burg inmitten des toten Sees.
Auf der anderen Seite des Sees,
auf dem allerhöchsten Felsen,
lag eine große schwarze Burg.
Ein einziges Fenster war erleuchtet.
Einem Auge glich dieses Fenster,
einem roten, unheimlichen und entsetzlichen Auge,
das in die Nacht starrte und uns Böses wollte.
Größtes Hindernis auf ihrem Weg dorthin scheinen die von Ritter Kato ausgesandten Späher zu sein, die den Auftrag haben die Eindringlinge zu fassen und an Ritter Kato auszuliefern. Durch ihre Gestalt und Art und Weise sich fortzubewegen erinnern sie sehr stark an Kakerlaken und geben dem Stück eine gewisse Komik, die im Buch komplett fehlt, für eine Weihnachtsinszenierung vor Kindern aber so wichtig ist. Damit sind sie beim jungen Publikum natürlich bei jedem Auftritt der Renner.
Es wird im Theatersaal viel gelacht und gestaunt. Mio, mein Mio reiht sich in jedem Falle in die lange Tradition am Schauspielhaus ein, den jungen Theatergängern anlässlich der Weihnachtszeit ein besonderes Theatererlebnis zu bieten. Aus Lindgrens Kunstmärchen mit jeder Menge magischer Elemente, Symbole und märchenhafter Formeln wird eine sehr eindrucksvolle und in sich stimmige Erlebnis-Inszenierung. Für die staunenden Kinderaugen sorgen dabei in erster Linie die Schauspieler selbst – Artistik, Gesang und einfache, aber überraschende kleine Effekte sorgen für viel viel Märchenzauber.
Den dramatischen Höhepunkt des Stückes stellt natürlich der Kampf von Gut gegen Böse dar. Eingeläutet wird dieser durch den Auftritt einer “richtigen Rockband” – wie wir aus dem Publikum vernehmen konnten – mit Ritter Kato als Frontman vor dem Hintergrund eines mächtigen Felsens. Ein sehr eindrückliches Bühnenbild und guter Bruch mit dem Buch an richtiger Stelle – so kann Kinderliteratur und vor allem ein Klassiker wie Mio, mein Mio von dem Schritt auf die Bühne mehr als profitieren.
Ein paar Termine für diese wirklich sehr gelungene Inszenierung gibt es noch. Für wen das Märchen neu ist, der wird begeistert sein und wer es bereits kennt, kann sich auf viel Überraschendes freuen. Wir legen einen Besuch jedem sehr ans Herzen, der noch die Möglichkeit dazu hat und beenden unseren kleinen Ausflug ins Land der Ferne mit einem Auszug aus den poetischen Songtexten des Stückes, deren sprachliche Bilder Lindgrens Meisterwerk in besonderem Maße ehren.
So fließt in die Welt
ihr magischen Stoffe,
von denen ich mir
Glück und Segen erhoffe.