Besuch im Bücherschloss

Es gibt Orte, die tragen so viel Atmosphäre und Wert in sich, dass sie uns nie einfach so wieder gehen lassen. Sie bleiben in gewisser Weise immer präsent und beschenken uns mit einem einzigartigen, speziell an diesen Ort geknüpften, Gefühl.

Nachdem ich im vergangenen Jahr mit dem Sommerhaus einen solchen Ort gefunden hatte, habe ich mich in diesem Sommer erneut auf die Reise gemacht – hin zu einem Ort mit Seele und Vergangenheit. Einen Ort, den ich gedanklich schon unzählige Male aus der Ferne besucht habe – die Internationale Jugendbibliothek, nicht einfach nur eine Bibliothek – ein Bücherschloss. Hier möchte ich nun von diesem Besuch erzählen.

Brückenbauen – ein Buch und eine Institution: Die Kinderbuchbrücke © Kunstmann Verlag vor Schloss Blutenburg – der Internationalen Jugendbibliothek


Seldweg 15 in München – so lautet unser erstes Zwischenziel des Navis auf dem Weg Richtung Süden. Ein schmaler und unscheinbarer Weg, der sich unter dicht beisammen stehenden Ahornbäumen erstreckt und irgendwann den Blick hin zu Schloss Blutenburg freigibt. Als wir ankommen, steht die Sonne schon hoch und säumt uns die letzten Schritte zum Ziel.

Dort begrüßen uns die fröhlich im Wind flackernden Fahnen der Internationalen Jugendbibliothek und wir tauchen durch den Torbogen im Eingangsturm in eine ganz eigene Welt ein. Eine Welt, die den Schlüssel für eine bessere Welt in sich trägt – Tausende Kinder- und Jugendbücher von überall aus der Welt.

Die Sonne weist uns den Weg




Auf dem großen Schlosshof im Inneren von Schloss Blutenburg treffen wir uns mit Julia, der sehr herzlichen Pressedame des Hauses. Sie war es, die diesen Besuch in dieser Form überhaupt möglich gemacht hat. Und sie es nun auch, die uns mit auf einen Rundgang durch die Schlossanlage nimmt, bei dem unser erster Weg uns auch gleich zum Herzstück genau dieser führt – dem Magazin. Dort lagert der größte Teil der umfangreichen Sammlung an internationalen Kinder- und Jugendbüchern, die Jella Lepman vor vielen Jahren einst begonnen hat aufzubauen – eine wahre Schatzkammer.

Und das nicht nur für Buchbegeisterte und Vielleser – nein, wer einmal im Magazin der Internationalen Jugendbibliothek zwischen den vielen Regalen umhergehen konnte, der begreift ganz gewiss, dass eine gebundene Geschichte zwischen zwei Buchdeckeln für ein Leben eine unbeschreibliche Kraft und Bedeutung haben kann. Warum es auch so besonders wichtig ist, frühzeitig damit zu beginnen, Kindern so oft wie möglich die Gelegenheit dazu zu geben, eben diese Geschichten und Bücher kennenzulernen. Nicht nur zur Unterhaltung – auch zum Erwerb von Sprache, Empathie und Lesefähigkeit, Meinungsbildung, Teilhabe und für mehr Austausch und Verständnis zwischen den Kulturen.

In den Räumen des unterkellerten Schlosshofes lagern die Bücher zwar nicht in erster Linie, um in diesem Sinne entdeckt zu werden, aber sie werden dort aus genau diesem Grund wie ein Schatz aufbewahrt. Und wir dürfen an diesem besonderen Tag in gewisser Weise auf Schatzsuche gehen, was natürlich besonders für die mitgereisten kleinen LeseEntdecker ein spannendes Unterfangen ist. Ausgestattet mit Filzpantoffeln für all die größeren Füße geht es also auf leisen Sohlen und mit strahlenden Augen durch die Gänge im Magazin. Und das Beste – wir haben Zeit. Natürlich nicht genügend, um alle Gänge abzugehen – aber genügend, um Lieblingstitel aufzusuchen, die fahrbaren Regale mithilfe von spannenden Sternrädern hin- und herzuschieben und viele Fragen zu stellen.

Für große Füße geht es ins Magazin nur auf leisen Sohlen.




Wir erfahren, dass es an die 420 000 Titel sind, die auf den vielen Regalmetern lagern. Außerdem sind sie allesamt Spenden von Verlagen, Privatpersonen oder auch aus Nachlässen und erzählen somit in gewisser Weise neben der eigentlichen Geschichte sogar alle noch ihre eigene. Wir finden in einigen Büchern Randbemerkungen, Namensstempel oder sogar gepresste Pflanzen, die vielleicht einst als Lesezeichen zum Einsatz gekommen sind.

Besonders alte und abgegriffene Exemplare stehen neben Erstausgaben direkt aus dem Verlag aus Übersee, bekannte Bücherhelden tauchen unter verschiedenen Namen und zwischen fremden Wörtern auf, stehen aber dicht an dicht nebeneinander und lassen erahnen, wie oft eine Geschichte in eine andere Sprache übersetzt wurde. Wie viele Brücken zwischen den Ländern und Kulturen geschlagen wurden – hier hat man die Möglichkeit sie abzuzählen.

Wir stöbern noch etwas zwischen den Gängen und sind schließlich bereit für all das andere, was auf eben dieser Schatzkammer im wahrsten Sinne des Wortes aufgebaut ist. Die Ausstellungs- und Veranstaltungsräume, die Kinderbibliothek und all die vielen Angebote, die an diesem besonderen Ort erdacht, umgesetzt und gelebt werden.

Jedes Buch hat seine Geschichte.




Die Wehrgang-Galerie ist einer der Ausstellungsorte im Schloss und wir haben im Sommer noch das Vergnügen, dort die wunderschöne Ausstellung Migrations. Postkarten von Künstlern aus aller Welt zu bestaunen. Ein sehr hoffnungsvolles Projekt, für das viele bekannte Illustratorinnen und Illustratoren Postkarten zum Thema Flucht und Migration entworfen haben, die gemeinsam auf ganz wunderbare Art und Weise im Schloss Blutenburg präsentiert wurden.

Eine Ausstellung, die so sehr das Vermächtnis der Gründerin Jella Lepman lebendig erhält, dass man, unter den bunten Faltkranichen der Ausstellung stehend, nur staunen kann, wie genau eine Vision von Generation zu Generation weitergetragen werden kann.

Kurz nach dem zweiten Weltkrieg kehrte Jella Lepman als emigrierte Jüdin nach Deutschland zurück und setzte es sich zum Ziel, die Kinder des Landes aus der kulturellen Isolation herauszuholen und ihren Horizont mithilfe von Kinder- und Jugendliteratur zu erweitern. Sie erschuf einen Ort mit ganz neuen Impulsen, der die Kinder durch Lesungen, Theatergruppen, Malkurse oder Ausstellungen bestärken und ihnen die Möglichkeit geben sollte, sich selbst zu ermächtigen. Jella Lepman war der festen Überzeugung, dass kulturelle Bildung in der Kindheit zu einer besseren Zukunft beiträgt – zu einer wirklichen Chance für einen Neustart nach einer schwierigen Zeit. Und diese Überzeugung lebt an diesem Ort hier eindeutig weiter, das spürt man überall.

Lassen Sie uns bei den Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt langsam wieder ins Lot zu bringen.

Jella Lepman (1945)


Galerie im Wehrgang – Migrations. Postkarten von Künstlern aus aller Welt




Eine weitere Ausstellung, in deren Genuss wir kommen, ist die derzeitige Schau über Schurken, Hexen, üble Gestalten, untertitelt mit “Bösewichte in der internationalen Kinder- und Jugendliteratur” – ein großartiger Vermittlungsgedanke. Endlich stehen mal nicht nur die Heldinnen und Helden im Vordergrund, sondern ihre vermeintlichen Kontrahentinnen und Kontrahenten – das überrascht und macht es von Anfang an ziemlich spannend.

Vor allem, wenn das Ausstellungsteam die Räume mit so viel Fantasie und Detailreichtum ausstattet. Interaktive Objekte und kleine Mitmachstationen ergänzen die ausgestellten Bücher, Requisiten und Texte wunderbar und sorgen für ganz neue Erfahrungen mit einer Geschichte, die vielleicht sogar schon bekannt ist.



Weiter geht es in die erste von vier Dauerausstellungen – im Binette-Schroeder-Kabinett. Ein Bereich, in dem es auf kleinsten Raum so viel zu entdecken gibt, dass unsere Zeit nur für die ganz offensichtlichen Highlights ausreicht. Da eine Schublade oder dort ein Leuchtkasten mit Überraschungseffekt, da eine versteckte Aufführung im Schrank und anderswo wiederum feinste Objektkunst.

Binette Schroeder ist der Internationalen Jugendbibliothek sehr verbunden und hat für diese Ausstellung beispielsweise ihre eigene umfassende, internationale Bilderbuchsammlung sowie besondere Sammelstücke zur Verfügung gestellt. Außerdem ist sie regelmäßig zu Gast – so zum Beispiel noch diesen Herbst zur Vorstellung ihres neuen Buches zu einem Werkstattgespräch.

Der Kosmos der Binette Schroeder unter dem Dach von Schloss Blutenburg




Egal ob nun in den wechselnden Sonderausstellungen oder aber in den Dauerausstellungen – überall findet man in den Räumen besondere Bereiche, kleine Zeichen oder gar Utensilien, die von der umfassenden Vermittlungsarbeit zeugen, die hier täglich stattfindet. Da ein Korb voll mit Büchern und anderswo ein Bastel- und Malbereich für Gruppen. Außerdem überall Platz zum Verweilen und Probieren – das hat mir besonders gut gefallen. Man spürt förmlich um sich die vielen Workshopangebote, die Werkstätten und Kurse oder aber die Gesprächsrunden und Leseclubs, die hier regelmäßig stattfinden, um die Lust an Literatur zu wecken und weiter zu fördern.

Überall die Möglichkeit mit einem Buch zu verweilen


Und weiter geht es mit einer herrlich umfangreichen Auswahl an internationalen Kinder- und Jugendbüchern, die frei zugänglich in der Kinderbibliothek auf die Kinder wartet. Kunterbunte Regalreihen und Länderflaggen begrüßen uns hier und machen einfach Laune.

Am schwedischen Regal schauen wir natürlich nach unseren liebsten Astrid Lindgren-Titeln und freuen uns auch über Christina Björks Linnea. Außerdem verrät uns Julia, dass man sich hier auch einen schwedischen Brauch nach München geholt hat. Immer in der Vorweihnachtszeit werden zum Luciatag Laternen auf den kleinen Teich um das Schloss zu Wasser gelassen. Die Kinder haben sie im Vorfeld selbst gestaltet und vereinen sie an diesem Tag zu einem wunderschönen, bunten Lichterspiel vor der Kulisse der Internationalen Jugendbibliothek. Was für ein besonderes Schauspiel muss das sein? Wir erwägen sofort einen nochmaligen Besuch im Dezember.





Schließlich führt uns unser Rundgang durch das Bücherschloss noch zu vier, historisch gesehen, sehr bedeutsamen Orten. Jella Lepman hatte für ihre Idee der kulturellen Verständigung durch Kinder- und Jugendliteratur viele Mitstreiter und Mitstreiterinnen – einer davon war Erich Kästner. Ihm und seinem Mitwirken zu Ehren wurde im Torturm des Schlosss ein kleines, feines Zimmer eingerichtet, das Dokumente über sein Wirken für die Internationale Jugendbibliothek sowie eine große Sammlung von internationalen Erstausgaben seiner Werke beherbergt.

Nicht weit entfernt liegt der Jella-Lepman-Saal und ist Kästner demnach ebenso nah, wie Jella Lepman dem Autor zu Lebzeiten auch stand. Seine Konferenz der Tiere beruht beispielsweise auf ihrer Vision von einer Weltfriedensgemeinschaft der Kinder.

Der große Saal ist großzügig bestuhlt und im Schloss der Ort für größere Veranstaltungen, wie beispielsweise Lesungen, Tagungen oder Buchpräsentationen. Durch ihn hindurch gelangen wir schließlich zu einem weiteren, dauerhaft in der Internationalen Jugendbibliothek verorteten, Museum eines großen Autors – dem Michael Ende Museum.





Das Michael Ende Museum existiert seit 1998 und basiert auf einem Teilnachlass des Autors. Neben Möbeln und persönlichen Gegenständen kann man hier natürlich auch viele seiner Bücher in sämtlichen Sprachen und die dazugehörigen Illustrationen von überall aus der Welt bestaunen.



Vom unter dem Dach gelegenen Ende Museum geht es für uns abschließend noch einmal quer über den Schlosshof zu einem ganz besonders alten Turm, der eine literarische Sammlung von James Krüss enthält. Ganz im Sinne seiner norddeutschen Herkunft erinnert der James-Krüss-Turm etwas an einen Leuchtturm und zeigt, auf engen Stufen entlang bis beinahe in die Spitze, viele seiner Werke sowie so manch interessanten Gegenstand aus seinem Besitz – so zum Beispiel die Medaille des Hans Christian Andersen Preises, die ihm 1968 verliehen wurde.



Als wir aus diesem letzten Turm heraustreten, ist der Tag schon weit vorangeschritten und es heißt Abschied nehmen. Die Internationale Jugendbibliothek ist nun aber nicht länger mehr nur ein Sehnsuchtsort, sondern ein Ort, an den wir zurückkehren werden. Ein Ort dessen Wert ich in die Welt hinaustragen und dessen Geschichten ich erzählen möchte. All die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Geschichten, die hier versammelt sind.

Angefangen mit Jella Lepmans Kinderbuchbrücke, in der sie davon erzählt, wie alles angefangen hat. Wie sie sich dazu entschlossen hat, in ein Land zurückzukehren, aus dem sie einst fliehen musste. Was der Glaube in die nächste Generation damit zu tun hatte und wie aus einer Vision ein ganz realer Ort entstand. Ein Ort, der in so vielerlei Hinsicht Vorbild für Literaturvermittlung, kulturelle Bildung und Völkerverständigung ist – ein Brücke und heute auch ein Schloss.

Die Kinderbuchbrücke © Kunstmann Verlag, Illustration: Rotraut Susanne Berner



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