Mit Amelie den Brückenschlag wagen – Vom Film zum Buch

Im November des vergangenen Jahres hatten wir das Glück, an einem Seminar des Arbeitskreises für Jugendliteratur zum Thema Inszenierte Kinder- und Jugendliteratur für den Film teilzunehmen. Die Synergieeffekte zwischen den Medien und das Potential für die Leseförderung waren dabei die Punkte, die uns besonders interessierten. Außerdem ging es uns um den Brückenschlag und somit um die Übersetzungsleistung von der Buchvorlage hin zum Film. Schließlich konnten wir während der Vorträge und Workshops aber so weit über diesen gesteckten Horizont hinausblicken, dass wir an dieser Stelle hier nun über genau den umgekehrten Weg sprechen möchten. Den Weg vom Film und somit Drehbuchstoff hin zum Kinder- und Jugendroman. Denn genau diesen Weg sind die Münchner Filmproduktionsfirma Lieblingsfilm und der 360 Grad Verlag mit dem Kinofilm Amelie rennt im Spätsommer 2017 gegangen.

Amelie rennt von Natja Brunckhorst (Drehbuch und Roman) und Tobias Wiemann (Regie), produziert von Philipp Budweg und Thomas Blieninger (Lieblingsfilm) sowie Martin Rattini (Helios Sustainable Films) und erschienen im 360 Grad Verlag.

Amelie rennt © 360 Grad Verlag und farbfilm home enternainment Foto: Martin Rattini

Bisher war bei Adaptionen – sei es nun vom Roman zum Theaterstück oder eben vom Roman zum Film – immer das Buch unser Ausgangspunkt. Die Inszenierung auf der Bühne oder auf dem Bildschirm haben wir als das Erlebnis betrachtet, das den Horizont erweitert und es vermag, die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel zu erzählen. Als Philipp Budweg im Seminar dann aber von der Entstehungsgeschichte des Romans zum Film erzählt hat, waren wir ganz angetan von den neuen Möglichkeiten, mit denen die jungen LeseEntdeckern diese Geschichte dadurch erfahren können.

Der Film war schon längst abgedreht, da kam die Idee auf, daraus auch ein Buch zu machen und es parallel zum Kinostart zu veröffentlichen. Also setzte sich Nadja Brunckhorst daran, ihr Drehbuch in einen Roman zu verwandeln, was natürlich vor allem darin bestand, all das, was man im Film sieht, zu beschreiben. Außerdem mussten Dialoge verändert werden und es galt die Gedanken- und Gefühlswelt, die im Kinderbuchbereich so wichtig ist, mit einzubauen. Kurzum, die Stimmung des Films, die ja nun einmal mithilfe von Farbgestaltung und Lichtdramaturgie, Einstellungsgrößen, Szenen- und Kostümbild, Ausstattung, Requisiten und Filmmusik erzeugt wird, sollte sich vergleichsweise auch im Kopfkino des Lesers breit machen können. Und diese Stimmung ist trotz einem schwierigen Hauptthema, nämlich der Krankheit Asthma, wirklich hoffnungsvoll und sehr lustig.

Amelie ist 13 Jahre und lebt in Berlin. Mal bei der Mutter, mal beim Vater, denn ihre Eltern sind getrennt. Doch das wird im Film wie im Buch recht selbstverständlich erzählt und ist nicht Amelies Problem. Vielmehr belastet sie ihr Asthma, das sie mit allen Mitteln zu verdrängen und sogar zu verstecken versucht. Dass diese verhasste Krankheit sie allerdings geradewegs zu einem großen Abenteuer in den Südtiroler Bergen und schließlich auch zu sich selbst führen wird, ahnt man am Anfang der Geschichte noch nicht. Denn alles beginnt mit einer Verabredung zum Gläserrücken, zugezogenen Vorhängen in einer Berliner Altbauwohnung und einem Asthmaanfall, der Amelie beinahe das Leben kostet.

Innenseite mit Filmfotos aus: Amelie rennt © 360 Grad Verlag und farbfilm home enternainment

Filmszene aus Amelie rennt: Susanne Bormann, Denis Moschitto und Mia Kasalo © Lieblingsfilm Martin Schlecht

Danach gibt es für Amelie und ihre Eltern keine andere Option mehr, als sie in eine Asthmaklinik zu bringen und sie dort behandeln zu lassen. Doch was für den noch außenstehenden Zuschauer erst einmal die logische Konsequenz und gleichzeitig eine große Chance ist, bedeutet für Amelie eine Katastrophe. Unter keinen Umständen will sie sich ihre Krankheit eingestehen und am Ende der Welt versauern.

Doch alles Fluchen und Sträuben hilft nichts, kurzum sitzt Amelie mit ihren Eltern im Auto auf dem Weg in die Berge. Dort angekommen ist sie allerdings erst einmal mehr damit beschäftigt, abzuhauen und sich quer zu stellen, als wirklich Hilfe anzunehmen. Ein Glück aber, dass sie dabei Bart begegnet – einem zweifelsohne sehr liebenswerten Jungen aus der Gegend, der sich von Anfang an verantwortlich für dieses Mädchen aus der Stadt zu fühlen scheint und sich von all ihrer Wut, ihren Flüchen und Gemeinheiten nicht davon abhalten lässt, sie zu begleiten. Hinauf auf den Berg, wo zur Sonnenwendfeier jedes Jahr das Alpenbrennen stattfindet. Ein Feuer, das verspricht, Krankheiten zu heilen, wagt man den Sprung über seine Flammen. Klar, dass Amelie da hin muss. Trotz oder besser gesagt gerade wegen ihres Asthmas.

»Berg – ich komme!«

 

Gemeinsam mit Bart steigt sie immer weiter gen Himmel, übersteht nicht zuletzt durch ihn so manch brenzlige Situation und lernt zu vertrauen. Nicht nur in sich selbst, sondern eben auch in die aufkommende Freundschaft zu Bart. Sie begreift, dass sich Menschen um sie sorgen, ihr helfen wollen und sie nicht allein mit ihrer Krankheit dasteht.

Die Beziehung der beiden Jugendlichen berührt sehr. Auf den ersten Blick sehr unterschiedlich, vereint sie der gleiche Humor und eine gewisse Schlagfertigkeit, die mit Sicherheit auch bei dem jungen Publikum sehr gut ankommt. Außerdem erinnert der Anblick von Barts lockigem Rotschopf und Amelies nussbraunen langem Haar im satten Dunkelgrün des Waldes auch unbeschreiblich an ein anderes Paar aus der Kinderliteratur. Und wie sie da zusammen Stöcke herbeitragen und sich eine Hütte für die Nacht bauen, könnte man tatsächlich glauben, Ronja und Birk seien zurück auf der Leinwand.

Amelie rennt ist ein bildgewaltiger Kinderfilm, der vieles in sich vereint. Die Wucht der Natur und unsere Bedeutung in ihr, der Wert von Freundschaft und die Kraft eines gemeinsamen Weges sowie die Erkenntnis, wie wichtig es manchmal sein kann, Hilfe anzunehmen. Die ausgewählten Schauspieler sind grandios, bedenkt man, wie jung sie noch sind. Mia Kasalo als Amelie und Samuel Girardi als Bart spielen sehr authentisch und natürlich, sodass man keinen Moment an den Figuren zweifelt – sie sogar gern noch ein Stück weiter in ihrer Geschichte begleiten würde. Aber auch Shenia Pitschmann als Steffi, Amelies Bettnachbarin in der Klinik, spielt grandios – wir haben so viel über sie gelacht und ihr Spruch “Nicht erschrecken, ich bin´s nur, die Steffi!” ist seither ein Garant dafür, wenn wir mal wieder lachen wollen.

Innenseite mit Film- bzw. Drehfotos aus: Amelie rennt © 360 Grad Verlag und farbfilm home enternainment

Filmszene aus Amelie rennt: Mia Kasalo und Samuel Geradi © Martin Rattini

Die Bedürfnisse der jungen Zielgruppe wurde bei diesem tollen Film wirklich ernst genommen und am Ende ist es nicht von Bedeutung, ob man zuerst den Film schaut oder zuerst das Buch liest – beide Richtungen funktionieren wunderbar. Und natürlich steht der Film einfach auch für sich – nicht umsonst wurde er u.a. auch mit dem Goldenen Spatz ausgezeichnet und bekam beim Deutschen Filmpreis die Lola für den besten Kinderfilm.

Aber es ist wirklich bemerkenswert, welch zusätzlichen Wert eben der Roman zum Film liefern kann. Vergleichen macht Spaß und Lesen und Anschauen inspirieren sich gegenseitig, sodass die jungen LeseEntdecker die Geschichte am Ende besonders tief verinnerlichen können. Für all die Comicfans unter ihnen gibt es im Buch zusätzlich sogar noch ein paar Seiten mit Comicstrips, gezeichnet von der Illustratorin Alexandra Ruegler.

Innenseite mit Comic aus: Amelie rennt © 360 Grad Verlag, Illustrationen: Alexandra Ruegler

Amelie rennt ist in unseren Augen ein Vorzeigeprojekt, das aufzeigt, wie wichtig es sein kann, jungen Menschen eine Geschichte auf verschiedenen Wegen nahezubringen, sie ernst zu nehmen und ihnen wirkliche Inhalte zuzutrauen, die nichts beschönigen, aber am Ende trotzdem immer Hoffnung geben. Und das tut Amelie rennt am Ende in jedem Fall.

Dass dafür nicht immer eine Kinderbuchvorlage die richtige Grundlage darstellen muss, zeigt die Initiative Der besondere Kinderfilm, auf die wir abschließend noch gern hinweisen möchten. Dort setzt man sich dafür ein, dass sich mehr Sensibilität für die Notwendigkeit von Originalstoffen, zu denen auch Amelie rennt gehört, in der Kinderfilmlandschaft entwickelt. Wir sind gespannt, wie viele solcher Projekte in den nächsten Jahren noch entstehen.

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