Viele flauschige Schneeflocken fallen auf Rico und Oskar, die dick eingepackt und mit Weihnachtseinkäufen beladen nebeneinanderher schlendern. Vor uns liegt das neueste Werk von Andreas Steinhöfel um die beiden besonderen Jungen aus Berlin. Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch heißt es und verspricht feinste Weihnachtsstimmung. Wir hatten das Glück den Autor während seines Besuches in Dresden zu treffen, wo er am tjg. – Theater junge Generation bereits zur Theaterpremiere des Buches zu Gast war. Gemeinsam mit Felicitas Loewe, der Intendantin am tjg. und gleichzeitig Dramaturgin des Romans, stand er uns Rede und Antwort zum neuen Buch und zum Wechselspiel zwischen Literatur und Bühne. Außerdem ging es im Gespräch um die Magie des Schnees, außergewöhnliches Teamwork am Theater und die Bedeutung des Loslassens. Wir freuen uns sehr, hier nun von diesem Gespräch zu berichten und gleichzeitig den Roman sowie die Inszenierung vorzustellen.
Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch von Andreas Steinhöfel, erschienen bei Carlsen. Am tjg. Theater der jungen Generation Dresden in einer Fassung von Felicitas Loewe uraufgeführt.
Der eine tief-, der andere hochbegabt, seit dem ersten Band beste Freunde und beide auf ihre Art unbeschreiblich liebenswert. Das sind Rico und Oskar von der Dieffenbachstraße 93 in Berlin. Im vierten Band feiern sie gemeinsam mit all den anderen skurrilen Hausbewohnern Weihnachten und lassen uns Teil werden, von einem zwar unheimlich chaotischen, dafür aber besonders herzerwärmenden Fest. Letzteres war dem Autor besonders wichtig, wie er uns wissen ließ. Hübsch kuschelig wollte er es im neuen Band haben – denn schließlich sei er doch ein großer Weihnachtsfan. Und das vor allem wegen des Schnees, denn der berühre ihn jedes Mal aufs Neue.
Mit der Hoffnung, dass es damit nicht nur ihm so gehe, habe er dem Schnee im Buch also eine wichtige Rolle zugeschrieben. Und ja, der Schnee ist im Verlauf der Geschichte eigentlich allgegenwärtig und zeigt sich dabei in seinen verschiedensten Formen. Mal als ein hypnotisierendes, weißes Wirbeln – mal als rasend schnell vorbeijagendes Weiß und ein anderes Mal als ein sachtes Rieseln in einer Schneekugel. Es verwundert daher auch nicht, dass Rico gleich zu Beginn des Romans eine seiner grandiosen Beobachtungen über den Schnee anstellt.
Es schneite pausenlos
seit fast einer Woche, Tag und Nacht.
In den Straßen türmte sich der Schnee,
und die Luft über Berlin war so weiß,
als würden tausend Engel
Milch über der Welt ausschütten. […]
Jedenfalls konnte ich
kaum den Blick abwenden.
Das weiße Wirbeln hinter dem Glas
war wie eine mächtige Hypnose.
Außerdem sorgt der Schneesturm dafür, dass sich Ricos Welt – ähnlich wie bereits im ersten Teil – wieder mehr verdichtet. Die gesamte Handlung spielt sich im Haus oder im Kiez ab. Diesmal steht nicht in erster Linie ein Kriminalfall im Vordergrund, sondern vielmehr das Zwischenmenschliche. Es geht um die Familienerweiterung – Ricos Mutter ist schwanger und bald soll das Geschwisterbaby, wie Rico es nennt, zur Welt kommen.
Darüber hinaus lernen wir mit Rico und Oskar in dieser Geschichte sechs neue Kinderfiguren kennen. Geschaffen wurden sie vom Autor eigentlich für die Trickserie um Rico und Oskar, die bei der Sendung mit der Maus zu sehen war. Dort waren sie einfach da – als die Freunde unserer beiden Helden, ohne weitere Erklärung. Eine solche Erklärung sollte im neuen Band nun aber nachgeholt werden, so Steinhöfel. Es fehlte ihm nach Beendigung des Projektes regelrecht etwas und es sei fast ein schmerzliches Gefühl gewesen, etwas nicht ausreichend erzählt zu haben, was erzählt sein muss.
So lernen wir, dank hervorragend eingeschobener Rückblenden, bei schönstem Sonnenwetter Nuri, Samira, Sarah, den Checker, Soo-Min und Lawottny kennen. Alle vom Autor mit einem kleinen Dachschaden versehen, sollen sie zur Identifikation einladen. Den jungen Lesern regelrecht entgegenrufen: “Es ist okay, wenn du so fühlst, wir ticken auch so.”
Um sie herum hat Andreas Steinhöfel einen ganzen Ort geschaffen, der in diesem Band eindeutig zu unseren Highlights gehört – der vergessene Hof. Hier begegnet Rico im Sommer erst Nuri, dann nach und nach den anderen Kindern und stellt ihnen schließlich auch Oskar vor. Die gemeinsame Zeit, die die Kinder dort verbringen, wird aus Ricos Sicht unbeschreiblich anrührend beschrieben. Es braucht nicht viel, um sich als Kind gemeinsam froh und frei zu fühlen – erst Recht nicht, wenn man so ein Sonnengemüt wie Rico Doretti besitzt. Durch seine Augen gleicht ein einsamer Berliner-Hinterhof einer ruhigen und warmen Oase inmitten einer herrlich bunten Kreideblumenwiese – einem Ort des großen Glücks.
Als ich einschlief,
sprangen durch meinen Kopf keine Schäfchen,
sondern unzählige lachende Kinder.
Ein hoher Baum rauschte dazu
ein unhörbares, aber schönes Versprechen.
Es war, als konnte ich auf einmal
gar nicht genug neue Freunde haben.
Warum dieser besondere Ort am Heilig Abend bei Rico und vor allem bei Oskar allerdings kein Glücksgefühl mehr auslöst, erfährt man erst etwas später. Als zwei der Kinder ganz spontan bei Rico aufkreuzen und damit den Startschuss für ein mächtiges Durcheinander geben. Dank Ricos Erzählstimme und seiner besonderen Beobachtungsgabe kommt dennoch unheimlich viel Wärme auf und das Weihnachtsgefühl geht auch im größten Chaos nicht verloren.
Genau diese Art und Weise einer Weihnachtsgeschichte ist wie gemacht für das tjg. in Dresden. Dort wird für das Weihnachtsstück jedes Jahr ein realistischer Stoff gesucht, kein Märchen. Und das sei gar nicht so einfach, wie uns Felicitas Loewe im Gespräch erzählte. Vieles sei zu kitschig und komplett überfrachtet, sodass es nicht zum Anspruch des Jugendtheaters passte. Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch sei daher ein großer Glücksgriff, denn hier sei die gesamte Weihnachtsmotivik zwar vorhanden, stünde aber nicht im Vordergrund. Im Gegenteil, in Steinhöfels neustem Werk sei die ganze Welt drin und das sei wiederum ein Ansatz, der es möglich mache, mit ganz unterschiedlichen Perspektiven auf den Heiligen Abend zu blicken. So war es also auch keine Frage, dass man das Stück ins Programm genommen habe – zumal Felicitas Loewe vor acht Jahren bereits den ersten Teil um das herzige Gespann auf die Große Bühne des Dresdner Jugendtheaters gebracht hat.
Die Adaption für das Theater sei diesmal einfacher gewesen, verrät uns Frau Loewe weiter. Der Fakt, dass fast alles an einem Tag und räumlich nur geringfügig voneinander getrennt spielt, sei für die Dramatisierung von großem Vorteil. Und auch die Dynamik auf den Heiligen Abend hin mit einer bevorstehenden Geburt habe ganz klar dramatischen Wert. Außerdem sei Rico im Verlauf der vorangegangenen Bände ja sehr gereift und es wäre diesmal ohne Probleme möglich gewesen, ihn als Ich-Erzähler reflektieren zu lassen. Dem Regisseur Jan Gehler sei es zudem gelungen, Reflektion und Handeln für die neue Inszenierung besonders stark miteinander zu verflechten, was den großen Charme dieser Inszenierung ausmache.
Sehr charmant wird man als Zuschauer auch im Theatersaal empfangen. Auf der Bühne schneit es bereits dicke Schneeflocken, da hat das Stück noch nicht einmal angefangen. Und natürlich spielt der Schnee neben den neun Schauspielern, die insgesamt 16 Figuren zum Leben erwecken, auch auf der Bühne eine wichtige Rolle. Rico begrüßt uns wie im Buch vom Fenster aus – ein Chor der besonderen Art singt und es schneit.
Schnell gewinnt das Stück aber an Fahrt und wir sehen den beiden Freunden – hervorragend gespielt von Paul Oldenburg als Rico und Daniel Langbein als Oskar – dabei zu, wie sie den Schnee begrüßen, jeder auf seine Art. Ricos wilder Schneeengel sorgt dabei für reichlich Gekicher im Saal. Einen kurzen Schneesturm später wird die Bühne in viel wärmeres Licht getaucht und es ist klar – jetzt wird vom Sommer erzählt.
Das Kennenlernen und Beisammensein von Rico und Oskar mit den Kindern vom vergessen Hof sorgt gleich für weitere Kichervorlagen. Zum Beispiel beim Versteckspiel mit Oskar oder aber, wenn Nuris kleine Schwester Samira, gespielt von Marja Hofmann, ihrem Ruf, sich ganz gut allein verteidigen zu können, alle Ehre macht.
Die Grundstimmung und das Glücksgefühl, das Rico unter seinen Freunden empfindet, wird hier sehr schön wiedergegeben. Allerdings haben die Schauspieler ihre Rollen zu ganz neuen, eigenen Figuren werden lassen. Über diese Freiheit am Theater haben wir auch im Gespräch mit dem Autor und der Dramaturgin gesprochen, als es um ihre Zusammenarbeit und den künstlerischen Schaffensprozess aller Beteiligten ging.
Beide haben uns den Austausch während der Entstehung des Stücks als sehr gewinnbringend und vertrauensvoll beschrieben. Andreas Steinhöfel ist ein großer Verfechter davon, den Verantwortlichen für Bearbeitungen seiner Bücher freie Hand zu lassen und sich nicht eizumischen. In Felicitas Loewe habe er außerdem jemaden gefunden, deren Kompetenz und künstlerische Arbeit er sehr schätze und er wisse seinen Roman in guten Händen. Am Ende ginge es bei einer Theateradaption aber vor allem um Teamwork, die zu einem, von keiner Seite vorhersehbaren, Endergebnis führe, da sind sich beide einig. Den eigenen Text loslassen und frei geben – darauf käme es an. Denn nur so wäre es möglich, dass etwas Neues entstehen könne, was im Grunde den großen Reiz am Theater ausmache.
Wenn du immer wieder überrascht werden willst,
immer wieder ein neues Gefühl haben willst,
dann musst du ins Theater gehen.
Andreas Steinhöfel
Mit ganz einfachen Mitteln, einem fast schon puristisch anmutenden Bühnenbild und wenig Requisiten hat das Team vom tjg. Andreas Steinhöfels Weihnachtsroman wunderbar neu erzählt, ohne dabei auf den charakteristischen Sprachwitz des Autors zu verzichten. Ebenso wenig, wie auf seine Intension von einem harmonischen Weihnachtsabend zu erzählen. Denn als der größte Sturm vorbei ist und doch noch ein Rätsel aufgelöst wurde, kann der kuschelige Teil des Tages beginnen. Dazu sitzen alle neun Spieler in Reih und Glied nebeneinander und lassen sich das Weihnachtsessen schmecken – es wird gelacht und durcheinander geredet. Rico lässt den großen Höhepunkt noch einmal Revue passieren und es schneit. So oder so ähnlich hat es sich auch Herr Steinhöfel vorgestellt. Auf jeden Fall sei er happy, ließ er uns noch nach der Premiere wissen. Und auch Frau Loewe strahlte über das gelungene Weihnachtsspektakel in der Dieffenbachstraße 93.
Für uns hat sich bei dieser Verwandlung vom Buch auf die Bühne wieder einmal gezeigt, wie viel Potential in der Wechselbeziehung dieser beiden Kunstformen steckt. Besonders im Hinblick auf die Fantasie. Denn geht man mit seinen ganz individuellen Vorstellungen zum Stück und sieht dort vieles in ganz anderen Farben und Ausdrucksformen, öffnet man automatisch seine Sicht und im besten Fall auch sein Herz.
Wir sind aus der Vorstellung in jedem Falle mit neuen Sichtweisen und bester Weihnachtsstimmung herausgegangen. Und auch das Buch haben wir mit einem warmen Gefühl zugeklappt. Nicht zuletzt auch wegen der wunderbaren Illustrationen von Peter Schössow, die der eigenen Fantasie genau an den richtigen Stellen ein wenig unter die Arme greifen. Das letzte Bild im Buch ist grandios.
Nun hoffen wir auf eine weiße und heimelige Vorweihnachtszeit und freuen uns schon auf das nächste Abenteuer aus der Dieffenbachstraße. Denn so viel ließ uns Herr Steinhöfel am Ende noch wissen, einen fünften Teil von Rico und seinen Freunden wird es noch geben. Die Idee dazu hätte schon ordentlich Form angenommen.
Hier kann man sich für ein paar Vorstellungen noch Tickets sichern – am 10.12 und 27.12 wird das Stück sogar in Gebärdensprache übersetzt.