Auch wenn man schon etwas größer ist und längst selbst lesen kann, ist es immer noch schön, etwas vorgelesen zu bekommen. Und eigentlich ändert sich daran auch nie etwas, selbst wenn man erwachsen ist. Denn Vorlesen bedeutet auch immer gemeinsame Zeit. Zeit, in der man eine Reise zusammen antritt – der Vorlesende mit der Karte in den Händen und der Zuhörende mit dem Blick in die Ferne. Das notwendige Gepäck an Fantasie trägt jeder selbst. Und weil genau solche gemeinsamen Reisen in vielerlei Hinsicht unbeschreiblich wichtig sind, ist in unseren Augen auch ein Tag wie der bundesweite Vorlesetag von großer Bedeutung. Er erinnert daran, dass wir uns mehr Zeit für einander nehmen sollten. Das Alter spielt dabei keine Rolle – Vorlesen sorgt für strahlende Augen, vom Kleinkind bis hin zu den betagten Urgroßeltern.
Aus diesen Gründen haben wir dieses Jahr zum Vorlesetag auch wieder vorgelesen – und zwar aus einem Klassiker, der nun an dieser Stelle auch in den EntdeckerKoffer einziehen soll. Geschrieben hat ihn vor über hundert Jahren J. M. Barrie – ursprünglich als Theaterstück für Erwachsene. Heute ist es aber in erster Linie ein Kinderbuchklassiker, dessen Geschichte es vermag, Klein wie Groß gleichermaßen zu begeistern und zu berühren. Die Rede ist von Peter Pan!
Peter Pan von J. M. Barrie, übersetzt von Bernd Wilms und prachtvoll illustriert von minalima, erschienen im Coppenrath Verlag.
Uns war es wichtig aus dem Originaltext von Barrie vorzulesen, denn auch wenn diverse Bearbeitungen für Kinder in bestimmten Bereichen durchaus ihre Berechtigung haben, kann man natürlich gerade beim Vorlesen die sprachlichen Besonderheiten eines über hundert Jahre alten Textes besonders auskosten. Und was von den jüngeren Zuhörern noch nicht verstanden wird, kann nachgefragt werden und schafft somit Redeanlass, was im Übrigen auch ganz hervorragend zum Vorlesen passt.
Im Coppenrath Verlag ist Peter Pan im Original dieses Jahr in besonders edlem Gewand neu erschienen und bringt damit gleich noch ein weiteres Merkmal mit, das ganz wunderbar dazu verleitet, während der Vorlesereise kurz innezuhalten, um gemeinsam zu staunen: die Gestaltung.
Das Grafikatelier minalima aus London, das auch für die komplette grafische und visuelle Welt der Harry Potter Filme zuständig war, hat hier ein wirkliches Buchkunstwerk geschaffen. Angefangen beim teilweise gold geprägten Einband, über das matte Papier der Innenseiten sowie die differenzierte Typografie bis hin zur sehr eigenen Bildsprache, stimmigen Farbauswahl und den spannenden interaktiven Elementen – diese Peter Pan-Ausgabe hat alles, was kleine und große LeseEntdeckerHerzen höher schlagen lässt.
Auch Barrie hat in seinem Werk um den Jungen, der nie erwachsen wird, den Geschichten eine sehr wichtige Rolle zugeschrieben. Egal ob London oder Nimmerland – überall haben sie ihren gleichen Zauber. Um sie zu hören, ist Peter zum Haus von Wendy und ihrer Familie gekommen. Um sie auch zu den verlorenen Jungen zu bringen, nimmt Peter Wendy und ihre Brüder – John und Michael – mit nach Nimmerland.
“Weißt du, wir kennen keine Geschichten.
Keiner von den verlorenen Jungen
kennt irgendeine Geschichte.”
“Wie fürchterlich!”, sagte Wendy.
“Weißt du, warum die Schwalben
über dem Fenster ihr Nest bauen?”, fragte Peter.
“Damit sie Geschichten hören.
Ach Wendy, eure Mutter hat euch
eine so schöne Geschichte erzählt.”
Doch bevor es auf die fantastische Insel zu den verlorenen Jungen geht, muss dem guten Peter erst wieder sein Schatten angenäht und ein Kuss gegeben werden – und die Kinder müssen fliegen lernen. Dass dabei der Feenstaub der kleinen Tinkerbell eine wichtige Rolle spielt, dürfte allseits bekannt sein. Um zu erfahren, wie unheimlich knapp es Peter aber gelingt, Wendy, John und Michael aus dem elterlichen Haus zu locken, muss man allerdings den Originaltext von Barrie kennen. Er macht die Sterne am Himmel zu Peters Komplizen, die ihn warnen, als die Eltern und die Haushündin Nana schon fast an der Türschwelle stehen. Doch da sind die Kinder bereits über eine ganz andere Schwelle hinweggeflogen. Sie haben die Schwelle zwischen Realität und Fantasie passiert und steuern geradewegs in ein grandioses Abenteuer.
Es ist ein Abenteuer, in dem wir Feen, Nixen und Indianern begegnen – in dem es ein unterirdisches Versteck gibt und Bäume passen müssen. Ein Abenteuer, in dem wir uns das größte Festessen nur vorstellen müssen, um es zu genießen und in dem wir uns natürlich vor den Piraten in Acht nehmen sollten – allen voran vor dem legendären Captain Hook. Aber das schönste daran ist, all diese fantastischen Dinge können mit dieser besonderen Ausgabe tatsächlich erlebt werden. Jedem verlorenen Jungen kann dank kleinem Bäume-Pop-up beispielsweise sein passender Baum zugeordnet werden und um zu erfahren, wie spät es auf Nimmerland ist, können die kleinen LeseEntdecker an der patentierten croc o´clock drehen. Natürlich gibt es auch eine ausfaltbare Landkarte der Totenkopfinsel, die genauestens studiert werden kann und vieles vieles mehr.
Durch die Kombination des Originaltextes, der von Bernd Wilms sprachlich sehr schön aus dem Englischen ins Deutsche übertragen wurde, mit interaktiven Elementen zum Entdecken ist dieses Buch unserer Meinung nach wie dafür gemacht, um daraus vorzulesen.
Doch da auch die schönsten und spannendsten Abenteuer irgendwann einmal zu Ende gehen müssen, heißt es auch für Wendy, John und Michael Abschied zu nehmen von Nimmerland. Denn anders wie Peter, können sie nicht komplett vergessen und sehnen sich nach ihren Eltern. Was das für die verlorenen Jungen bedeutet und wie Peter doch immer wieder zu Wendys Fenster zurückfindet, wird im Original anders wie in vielen Adaptionen für Film und Theater nicht offen gelassen. Manch einer, der das Original zum ersten Mal liest, dürfte hier überrascht sein.
Es gab auf der Welt keinen schöneren Anblick,
aber keiner sah dieses Bild – außer einem fremden Jungen,
der zum Fenster hereinguckte.
Er erlebte die fantastischsten Sachen,
von denen andere Kinder nur träumen können,
doch durch das Fenster sah er das eine Glück,
von dem er für immer ausgeschlossen war.