Die kleinen LeseEntdecker von heute wachsen in einem vereinten Deutschland auf. Für sie existieren innerhalb des Landes keine Grenzen und auch im vereinten Europa bedeuten Landesgrenzen längst nicht unüberwindbare Mauern oder Trennungen. Sie wachsen mit dem selbstverständlichen Gefühl von Freiheit und in gewisser Weise auch Stabilität auf. Welch große Bedeutung aber hinter diesem Gefühl steht und dass das Selbstverständliche von heute und hier, längst nicht immer so selbstverständlich war und auch an vielen Orten der Welt immer noch nicht ist, das ist für sie schwer zu fassen. Umso wichtiger ist es, ihnen diese Bedeutung zu erklären und von ihr zu erzählen. Und das am besten ohne ihnen dabei ihre Selbstverständlichkeit zu nehmen.
Zur deutsch-deutschen Vergangenheit tauchen zudem sicher in vielen Familien immer wieder Kinderfragen auf und sicher nicht nur in Jubiläumsjahren wie diesem. Nun ist es aber gar nicht so einfach von einem Land zu erzählen, das es nicht mehr gibt, das aber für viele Menschen einst Heimat war. Denn entweder kannte man dieses Land selbst gar nicht oder aber kann es nur noch anhand von Erinnerungen beschreiben. Meist sind diese Erinnerungen nicht einmal gegenständlicher Art, sondern vielmehr gefühlsmäßig. Dann weicht man auf Episoden aus dem Alltag aus oder erzählt von bestimmten Erlebnissen, die in der erwachsenen Denkweise viel davon erklären, was die DDR für ein Land war, für die Kinder aber auch einfach nur Geschichten aus Mamas oder Papas Kindheit sein können. Und die sind so oder so immer spannend und lustig oder eben manchmal auch einfach seltsam und unvorstellbar.
Wie großartig ist es also, dass im Herbst 89 auch Fritzi dabei war und sie den LeseEntdeckern von heute nun ihre Wendewundergeschichte erzählen kann. Denn das tut sie aus einer besonders reizvollen Perspektive – nämlich aus der, der kindlichen Beobachterin. Bereits 2009 erschien das Buch von Hanna Schott und Gerda Raidt erstmals im Leipziger Klett Kinderbuchverlag – im Oktober feierte nun auch der Animationsfilm Premiere.
Fritzi war dabei – Eine Wendewundergeschichte von Hanna Schott und illustriert von Gerda Raidt, erschienen bei Klett-Kinderbuch.
Fritzi – Eine Wendewundergeschichte produziert von Balance Film, Trickstudio Lutterbeck, Doghouse Films, Artémis Productions sowie Maur Film und unter Regie von Ralf Kukula und Matthias Bruhn, nach dem Drehbuch von Beate Völcker, präsentiert von Weltkino.
Fritzis Wendewundergeschichte versetzt die jungen Leser unmittelbar in den Alltag der letzten Wochen der DDR. Der Roman beginnt am ersten Schultag nach den Ferien beim Fahnenappell und endet mit der Fahrt in die Freiheit.
Dazwischen öffnet die Autorin auf nur wenigen Seiten ein ganzes Universum und zeigt anhand von Fritzis Familie, wie bedeutsam der Herbst 1989 und die friedliche Revolution für unsere heutige Gesellschaft war. Fast exemplarisch kann man sagen, denn Fritzi lebt mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder in Leipzig, ihre Oma allerdings in München und kann nur selten zu Besuch kommen. Anders herum ist es der Familie gar nicht möglich sich zu sehen.
Nach den Sommerferien sitzt Fritzis Klassenkameradin Sophie in der Schule nicht wie gewohnt neben ihr und schnell macht es die Runde, dass sie wohl gemeinsam mit ihrer Familie in Ungarn darauf wartet, um über Österreich nach Westdeutschland auszureisen.
Der Alltag geht weiter, aber Fritzi macht sich danach ziemlich viele Gedanken über das Leben in ihrem Land. Die Eltern reden auch nur noch von den Menschen in Ungarn, diskutieren oder streiten gar immer öfter und fragen sich, wie es nun mit ihnen weitergehen soll. Mit vielen kleinen Details in Wort und Bild schaffen es Autorin und Illustratorin, dass sich die junge Protagonistin aber immer mehr einen Reim auf das machen kann, was im Fernsehen erzählt wird oder worüber sich die Erwachsenen unterhalten. Und mit ihr natürlich auch die jungen Leser.
Auch die Friedensgebete in der Nikolaikirche und die friedlichen Demonstrationen werden aus Fritzis Sicht sehr treffend beschrieben. Ihre Beobachtungen beziehen einzelne wichtige geschichtliche Details genauso mit ein wie die Stimmung, ohne dabei zu überfordern. Natürlich gehören dazu auch die Demoschilder und die Kerzen dazu, die als heutiges Symbol der friedlichen Revolution gelten.
Besonders beeindruckend sind die zwei Doppelseiten im Buch, auf denen der Text der illustrierten Menschenmasse einer Leipziger Montagsdemo Platz macht und somit auf sehr beeindruckende Art und Weise ein Gefühl davon vermitteln, welche Stärke von diesen friedlich demonstrierenden Menschen ausging.
Um Fritzis Geschichte für die große Leinwand zu adaptieren, mussten dieser relativ kurzen und dichten Erzählung, die nicht mehr als 87 Seiten umfasst, einige neue Handlungsebenen hinzugefügt, Figuren näher an die Protagonistin heran- und diese generell aus der Rolle der Beobachterin herausgerückt werden. Außerdem ist Fritzi im Film etwas älter. Das alles haben wir – sozusagen aus erster Hand – von der Drehbuchautorin Beate Völcker erfahren, als sie vor einem Jahr in der Herbsttagung des Arbeitskreises Jugendliteratur unter dem Motto Bücher lesen – Filme lesen zur Entstehung des Filmes gesprochen hat.
Konkret bedeutet das für die Geschichte nun, dass Sophie im Film nicht nur Fritzis Klassenkameradin ist, sondern ihre beste Freundin, die zudem ihren kleinen Hund, den Terrier Sputnik, vor ihrer Abreise nach Ungarn in die Obhut ihrer Freundin gibt. Und auch Bela, ein Mitschüler, zu dem Fritzi im Buch keinen direkten Kontakt hat, bekommt im Film eine wichtige Rolle zugeschrieben.
Generell ist das Thema Freundschaft ein ganz wesentlicher Bestandteil des Films. Die Freundschaft der beiden Mädchen zieht sich wie ein Bogen durch die komplette Story. Sie gilt es aufrecht zu erhalten, obwohl die beiden rein geografisch gesehen getrennt sind. An dieser Stelle kommt beispielsweise dem für den Film neu erschaffenen Baumhaus der Freundinnen eine große Bedeutung zu. Es befindet sich in direkter Nähe zur Wohnung von Sophie und ihrer Mutter und ist über deren Balkon zu erreichen. Dort begegnen wir den beiden auch zum ersten Mal – einen Tag bevor Sophie nach Ungarn aufbricht.
In eindrucksvollen Bildern erzählt uns die Filmfritzi ihr Wendewunder noch einmal in anderen Farben als im Buch. Emotionaler und direkter ist ihr Blick, die Aussage und die Botschaft der Handlung aber sind dieselbe – eine wunderbare Übersetzungsleistung vom Buch zum Film.
Die verschiedenen Tendenzen unter den Menschen, die in diesen Herbsttagen vor dreißig Jahren auszumachen waren, sind schon im Buch sehr schön verdeutlicht – im Film wird das ebenso aufgenommen und noch einmal intensiviert. Wie wichtig es vielen Menschen beispielsweise war, in Freiheit und ohne Grenzen zu leben, dafür aber ihre Heimat nicht zu verlassen, wird in unseren Augen sehr einfühlsam dargestellt.
Fritzi vermisst ihre Freundin ungeheuerlich und konzentriert sich in ihrer Sehnsucht immer mehr auf ihren ausgeklügelten Plan, Sophie wenigstens ihren Terrier über die Grenze zu bringen, denn der vermisst sein Frauchen mindestens genauso. Die anstehende Klassenfahrt kommt ihr da wie gerufen und in Bela findet sie einen Vertrauten, der sich unheimlich gut auskennt und Fritzi viel erklären kann. Gemeinsam mit ihm wagt sie schließlich das Unmögliche und setzt sich einer großen Gefahr aus.
Diese Gefahr rücken die Macher des Filmes viel näher an die Kinder heran, als es im Buch möglich wäre. Natürlich durch so manch wohlüberlegte dramaturgische Kniffe, aber besonders auch durch die großartige Filmmusik von André Dziezuk, die auf der einen Seite eine unbeschreibliche Leichtigkeit und Fröhlichkeit verströmt, auf der anderen Seite aber auch extreme Spannung aufkommen lässt.
Auch der Detailreichtum aus dem Buch findet sich im Film wieder – über so viele tolle Bilder und kleine, fast unscheinbare Verweise haben wir im Kino gestaunt. Die fein eingeritzte Grenze auf Fritzis und Sophies Schulbank, über die Fritzi gedankenverloren mit den Fingern streicht – die leuchtenden Kerzen zur Montagsdemo, die zu Sternen am Himmel werden und natürlich das immer heller werdende Fernsehflackern hinter den nächtlichen Fenstern.
Die Mittel des Filmes wurden hier hervorragend dafür eingesetzt, um diese wichtige Geschichte der deutsch-deutschen Vergangenheit für Kinder noch einmal auf einer anderen Ebene greifbar zu machen. Den Regisseuren Ralf Kukula und Matthias Bruhn ist es zudem gelungen, ohne Klischees und Zuschreibungen zu erzählen und stattdessen eine wichtige Botschaft in den Vordergrund zu stellen: Steh zu dem, was du als richtig erkannt hast! Sei dir treu!
Und natürlich erkennt auch Fritzi das Richtige und wächst nach der anfänglichen kindlichen Naivität beinahe über sich hinaus. Mit ihr gemeinsam fahren die Zuschauer des Films schließlich der Freiheit entgegen und erleben diese besondere Nacht noch einmal.
Abschließend lässt sich sagen, dass Buch wie auch Film einen wichtigen Beitrag zum Verstehen leisten können – zwischen Ost und West, aber vor allem zwischen den Generationen. Fritzi ermöglicht es, Erinnerungen aufrecht zu erhalten, ohne wieder eine gedankliche Mauer aufzubauen. Sie zeigt ganz klar, welchen Wert Freiheit und Demokratie für unsere Gesellschaft haben und fordert auf, einander ohne Vorurteile gegenüberzutreten.
Eine sehr wertvolle Brücke zwischen Buch und Film, die wir ans Herz legen.